Prof. Dr. Carl Fisher
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Frontalkollision

Wenn Kinder Angst haben, so geschieht dieses meistens über böse Träume.

In der Dunkelheit bekommen die Dinge ihr wahres Gesicht, der täuschenden Helligkeit des Sonnenlichtes beraubt. In dem unterirdischen Bereich lauert alles Böse und Verdrängte, dass doch die eigentliche Wirklichkeit bedeutet. Die Kinder wissen davon, und haben eine Heidenangst vor der Auseinandersetzung mit Tod, Krankheit und Verderben.

Was geschieht in den unvorbereiteten Situationen? Kinder lieben es, eine der unendlich vielen Katastrophen, die allüberall lauern, herbei zu schaffen, um den Umgang der Erwachsenen damit zu beobachten. In der vollbesetzten Fernbahn verkackte Hosen, zählen dabei den einfachsten Übungen zu. Das Zauberkunststück des Erwachsenen ist es, die Kinder von der Illusion einer beherrschbaren Umwelt zu überzeugen. Manches Mal aber hält der Drang des Dunklen, der eigentlichen Wirklichkeit, der erwünschten Fantasie gegenüber, jedoch nicht mehr stand.

Die Kunst des Erwachsenen besteht nun also in der Vortäuschung, irgendetwas gegen die Angst tun zu können; das Licht anzuschalten im dunklen Korridor, den sanft murmelnden Fernseher im Nebenraum laufen zu lassen; überhaupt die Vermittlung, das Leben geht, wie immer, seinen gewohnten Gang. Nach den Trostworten bleibt im beruhigten Kind, das leise wieder einschlummert, dessen Tränen auf seinen Bäckchen getrocknet, das zärtlich gestreichelt wurde, dennoch die bittere Erkenntnis der Wahrheit zurück, die ihm sagt:

Die Dunkelheit ist das Mächtigere, Tod und Verderben sind unüberwindbar, Angst zu haben ist die Bedingung des Lebens, die finsteren Albträume sind die eigentliche Wirklichkeit.

Hoch auf bäumte sich das Monster, speite Blut und Feuer auf seine Opfer nieder, wand und krümmte sich unter den Harpunenstößen, die ihm von vielen Seiten beigebracht.

Die wimmelnde Meute wurde bei einer jeden Bewegung des mächtigen Drachen, bei jedem seiner Schritte, bei jedem Wurf seines gewaltigen Schwanzes, jämmerlich zerquetscht und zertrampelt. Wie viele schon in grässlicher Mahnung darnieder lagen, war scher auszumachen, nur, dass die Kämpfer sich unentwegt auf deren aufgequollenen Gedärmen und zersplitterten Knochen weiterhin abmühten, dem übergewaltigen Monster in irgendeiner Weise beizukommen, wenngleich ihr grimmiges, wohl vollkommen aussichtsloses, Ringen mit der Bestie schon etliche Tage und Nächte andauerte und die Leben vieler Hundertschaften schon gefordert hatte. Wieder spie das Unwesen einen Feuerschwall, versengte damit ein gutes Dutzend wackerer Kämpfer, die sich ihm, in den Weg gestellt, mit einem heiseren Aufschrei in den Flammentod verabschiedeten. Überall qualmte und schmorte es, und über dem Tal des Blutbades hatte sich ein widerwärtiger Gestank von Fäulnis und Verwesung ausgebreitet.

Auf einer Anhöhe schien eine Gruppe von Kriegern eines der Glieder des Drachens mit Schwerthieben abgehackt zu haben; die Männer schwangen ihre Äxte in einem wahnsinnigen, rasenden Eifer immer wieder durch die Luft darauf ein, dass es nur so sauste.

Doch, oh Graus, der Drachen drehte seinen Kopf zu seinem schmerzenden Fuß und wischte alleine mit dieser Bewegung alle tollkühnen Mannen meterweit durch den Raum gegen einen nahen Felsen, an dem alle Leiber grausig zerschmetterten.

Es war ein ungleicher Kampf im Tal des Drachenblutes, und der eigentliche Sinn von Kampf, das eine Seite mit Macht gegen eine andere kämpfte, der war pervertiert: Denn es mochten sich noch so viele Soldaten hervor trauen in dieses traurige Schlachtfeld - der Ausgang würde sich nie zu Ungunsten des rasenden, feuerspeienden Monsters hin verändern.

Dieses ging nun so schon geraume Zeit, und Augustomos, der hoch zu Ross die Szenerie auf einem vorgelagerten Felsen, in sicherer Entfernung also, zu betrachten gewohnt war, zweifelte stark, ob der Kampf je hätte begonnen werden sollen.

Da das Monster, einmal derart aufgestachelt und provoziert, keinen Menschen in seiner Umgebung im Umkreis von zwanzig Meilen lebend entwischen lassen würde, war es gleich, ob die aus den Garnisonen nachrückenden Truppen nun gegen das Feuerbiest kämpfen wollten, oder auch nicht: Das Höllentier würde niemanden mehr leben lassen. Kein Wurm würde sich mehr über den Ackerboden erheben, wenn dieses Geschöpf des Fegefeuers sein Tagwerk vollbracht - zu groß war sein mächtiger Zorn angeschwollen, und mit jedem Ausspeien gebärdeten sich seine Feuerwände tosender. Eben ging wieder eine Lichtung junger Pinien in lichterlohen Flammen auf, und mit ihnen an die zwanzig Mannen, die mit qualerfülltem Seufzen ihr Leben aushauchten.

Augustomos wollte es nicht länger mehr mit ansehen und wandte sich ab, setzte die Zügel seines treuen Rosses in Richtung des Garnisonslagers hinab, die fatale, ausweglose Situation mit seinen Offizieren zu beraten, und auf welche Weise wenigstens die Hauptmänner ihr nacktes Leben bewahren wollten.

Die Stimmung im Lager war im Überkochen begriffen: Überall rannten die Mannen kopflos hin und her, schrien spitze Kommandos, begossen sich mit Met, um die brüllende Hitze wenigstens kurzzeitig aus ihren Gesichtern zu vertreiben. In manchen Ställen zeugten orgiastische Brunftlaute von Vorgängen der Sodomie und Notzucht - eine kurze Besänftigung der Todesängste, die manche Männer für sich gewählt hatten, um Abschied zu nehmen von den grünen Auen des Daseins - denn alle miteinander waren unausweichlich im brennenden Pfuhl des völligen Unterganges einbegriffen, und ein jeder tat, was er im Angesicht des Todes noch für notwendig hielt, und niemanden gab es, der auf welche Weise auch immer noch gerechnet oder gefeilscht hätte mit den Konditionen der kurzen Spanne des Lebens, die es noch galt, auf welche erdenkliche Weise immer, zuzubringen.

Es gab welche, die sich, vom höchsten Wachtturm fallend, in ihr Schwert hinein selbst entmannten; es gab solche, die heiße Tränen weinend, ihrem treuen Pferd den Gnadenstoß gaben, um anschließend das Herz ihres geliebten Tieres zu verspeisen; es waren Ritter da, die nicht mehr aufhörten, ihr rasend geschwollenes Glied zu befriedigen - offen und sichtbar vor allen anderen; denn niemand hatte mehr Einwände, es wurde nicht mehr gerechtet - nicht mehr nach irgend einer Ordnung des Himmels, noch der Erden, geschauet - denn allen stand die ungeheure Freiheit des Todes, dem Gleichmacher allen Lebens, unmittelbar bevor.

Was der einzelne aus dieser quälenden Gewissheit für Schlüsse schlug, es war das seine, und ein jeder ließ es jedem das seine sein.

Die Ankunft des mächtigen Herrschers Augustomos fand daher im Lager keinerlei Aufmerksamkeit, der Kaiser war einer, vom Tode Besessener, wie alle anderen auch; er lenkte sein treues Ross dennoch zum Quartier seiner Kommandoführer hin, die ihre Zelte weit geöffnet ließen, um der beissend-stickigen Hitze keinen Unterschlupf zu gewähren. Nostros war über eine Karte gebeugt, die Aufschluss geben sollte über noch mögliche Fluchtwege aus dem Tal des alles verschlingenden Feuerdrachens hinaus. In einer anderen Ecke war Oberst Damos, mit Hauptmännern zusammen, damit beschäftigt, die Zahl der Opfer und der noch verbliebenen Streitkräfte zu berechnen, um somit die Zeit der endgültigen Niederlage besser abschätzen zu können. Alle Männer gestikulierten mit roten Köpfen und nackten Oberkörpern; der Inhalt ihrer Reden aber war bar jeder Logik geworden; hilflose Worthülsen, die das eigentlich angebrachte, tödliche Schweigen zu übertönen versuchten.

Kaiser Augustomos stieg sachte von seinem Ross, fühlte sich alsdann zwischen die Schenkel, die ihm so schweissnass waren, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Eine prächtige Buhle hatte ihm einen ähnlichen Zustand einmal beigebracht, als er noch ein unerfahrener Jüngling war. Doch war dieses ihm eine zu freudig-lustige Erinnerung, in der tödlich ernsten Lage er sich mithin gerade befand; so wischte er die Gedanken daran ab, gleichsam er sich die angeschweissten Hände an einem Zelttuch trocknete. Augustomos musste in diesem Augenblick, da er direkt bei seinen obersten Heeresleuten stand, kurz darüber sinnieren, was er eigentlich wen noch was befragen wollte.

War nicht die Situation auch für ihn, den mächtigsten Herrscher des Orients, genauso tödlich ausweglos, wie für alle wild umher laufenden Mannen im gesamten Lager um ihn herum?

Der Drache, der, nur wenig vom Lager entfernt, in furchtbarer Verheerung wütete, war bis ins Mark gereizt, und dieses Wesen würde zur Wiederherstellung seines inneren Friedens nicht eher ruhen, bis es in einem Umkreis von zwanzig Meilen jedes lebendige Geschöpf mittels Feuer, Rauch und Schwefel in die Ewigkeit befördert hatte. Keine Macht der Welt konnte den Drachen noch davon abhalten; es würde ihm keine Seele entwischen; er hatte eine jede in seine blutunterlaufenen, feuerroten Augen fest fixiert.

Dem sinnenden Augustomos war im Zelt auf einmal jemand auf den Fuß getreten; er sah sich verwundert um: Ein junger Knabe, wohl der Schildknappe des Damos, hatte, bei der Herbeischaffung einer Amphore kühlenden Mets für seinen Herrn, im allgemeinen Getümmel die Füße des Kaisers nicht recht beachtet. Der Knabe erkannte zu seinem großen Schrecken, wem er da unachtsam auf den Fuß getreten, erbleichte, und fiel zitternd auf die Knie.

Augustomos musste ob dieser Szene lächeln, hob mit seiner Hand den Knaben sachte an der Schulter; hieß ihm, aufzustehen, und sprach: ?Nun lauf, mein Junge! Lauf, Deinem Herrn Kühlung zu bereiten!" Und mit diesen Worten wies der Herrscher ihm in Richtung des Damos, zu dem der eilfertige Bursche, dankbar, gerührt und erleichtert, den kühlenden Inhalt der Amphore ablieferte.

Damos, der das Getränk dringend ersehnt hatte, ließ ab von seinen Papieren und der Unterredung mit seinen Mannen, öffnete geschwind den tönernen Krug, und ließ sich alsdann den gesegneten Inhalt in seine ausgedörrte Kehle laufen, ihm dienend zur Erbauung, zu hohem Genuss und zur Letze.

In diesem Augenblick war die Szenerie, wie in einem Blitz von gewaltiger Stärke, erleuchtet.

Der Drache hatte seinen bisher mächtigsten Feuerschwall von sich geworfen: An die hundert Krieger waren in einem Moment in Asche verwandelt worden, mehrere Hektar Wald standen in lichterlohen Flammen. Das Gebrüll des Monsters hörte sich in seiner Lautstärke deutlicher noch im Lager an, und war für die verzweifelten Mannen dort ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Monstrum näher gerückt war, und damit gleichzeitig der Vollendung seines zerstörerischen Werkes.

Noch mehr Hysterie, Panik und Kopflosigkeit machte sich breit, so dieses denn überhaupt noch möglich war.

Im allgemeinen Getümmel nun schritt Kaiser Augustomos entschieden auf Nostros zu, seinen tapferen Marschall, der sich durch die herrschende Unruhe nicht vom konzentrierten Studium seines Kartenmaterials abhalten ließ, sondern umso genauer das Feld nach Auswegen absuchte. ?Und?" sprach Augustomos ihm über die Schulter, ?ersiehet er eine Rettung?"

Nostros trat etwas erschreckt zur Seite, nach kurzem Stutzen aber, lächelte er seinen gnädigen Herrn freudig an, überglücklich, dass dieser wohl behalten ins Lager zurückgekehrt. ?Oh, teurer Gebieter! Gebenedeit sei die Stunde Eures Sieges über alle Pein und Ungemach des übermächtigen Feindes, stark und unerschütterlich in der gottgewollten Sicherheit unseres nahen Sieges, der..." - ?Nun, genug, Marschall Nostros!" gebot der Herrscher über die Rede seines Dieners, ?Wir haben nicht die glückliche Kampfkraft von vor sieben Jahren vor der Halbinsel Yucutan," und, mit einer Schulterbewegung des Kaisers in die Richtung der Feuerhölle, die sich bedrohlicher noch im Hintergrund aufgetan hatte, ?und wir haben es nicht mit dem Heere der Hullenen zu tun," Augustomos fixierte scharf den Marschall, ?sondern mit dem Ende aller Tage, sollte uns in der Tat nicht ein göttliches Eingreifen vor der bedingungslosen, und alle unsere mutigen Leben fordernden, Kapitulation bewahren!" Mit diesen Worten nahm Augustomos kurzerhand dem erstaunten Obersten Damos den gefüllten Tonkrug ab, und ließ nun seinerseits den erquickenden und glücklich betäubenden Met durch seine kaiserliche Kehle fließen, ihm dienend zum Labsal und zur Letze.

Nach einigen Zügen ließ der Kaiser langsam den Krug sinken, wischte sich die Reste des Trunks mit seinem Hemdsärmel aus dem Bart, und, sein Gegenüber Nostros streng anblickend, ihm den halb gefüllten Krug weiter aushändigend. Die beiden Männer sahen sich ernst gegenseitig ins Gesicht, während Nostros die Amphore wie beiläufig mit ihrer Öffnung nach unten neigte, und der Rauschtrunk plätschernd zu Boden sickerte.

?Hedda!" rief die erboste Stimme des Hauptmanns Damos zu den beiden herüber, der seinerseits seine Berechnungen unterbrach, ?Guter Recke! Nutz nicht der Ehrfurcht harte Weise, bewahre den Trunk für Bedürftigere als Dich, der Du überreich davon genossen zu haben scheinst!" Bei diesen Worten brach Nostros das tönerne Gefäß mit seinen Fäusten entzwei, dabei immerfort den Kaiser anblickend. Ihre Kleider durchnässt vom klebrigen Met, die Haare verfilzt, lächelten beide Männer sich verstehend zu, und die Umstehenden wandten sich, kopfschüttelnd, wieder den gemeinsamen Kalkulationen mit Damos zu.

Der Kaiser und sein Marschall gingen alsdann festen Schrittes an den Kartentisch mit seinen weit ausgerollten Plänen, um sich, beratschlagend, von der völligen Hoffnungslosigkeit der Situation letztgültig zu überzeugen: Der einzige Ausgang aus dem Tal war von der rasenden Bestie versperrt, deren brachialen Urlaute ins Lager hinein hallten, damit anzuzeigen, dass sie wieder ein Stück näher gekommen war.

Als einer der Wachttürme am vorderen Ostflügel berstend in sich zusammenfiel, der übergroßen Feuersglut nicht mehr länger Widerstand zu leisten in der Lage, und etliche schreiende Männer unter sich begrabend, da ward es dem Herrscher am Kartentisch zuviel.

Mit gewaltiger Kraft riss er sein treues Schwert Anacalidur aus seinem ruhenden Schaft, bäumte sich vor seinen Mannen herrschaftlich auf und rief: ?Kämpft, Männer! Kämpft den letzten Kampf Eures Lebens!" Mit diesen Worten stürzte Augustomos johlend, mit wilden Bewegungen Anacalidur durch die Luft sirrend, zum brennenden Turme hin, und jener Öffnung der Lagermauer, die dessen Einsturz verursacht.

Dorthin hatte sich auch der Drache schon begeben, der im Lager das Nest seiner überaus lästigen wie winzigen Widersacher erkannt hatte, und in dessen Richtung nun die mächtigsten Feuerschwalle sandte, die man bisher von ihm gesehen. Die Leben der Kämpfer verschmolzen in Hundertschaften zu Asche und Staub.

Mit einer letzten, grandiosen Bewegung hieb Augustomos sein Königsschwert in eine Zehe des Drachens, der diese Attacke mit dem finalen Feuerstrahl beantwortete, die so gut wie alles Leben im Lager auslöschte. Die wenigen übrig gebliebenen rieben nun wie manisch an ihren feuerrot geschwollenen Gliedern, auch ihnen machte der Drache im nächsten Moment den Garaus. In einer Ecke lag der wackere Hauptmann Damos, dem im Augenblick von der enormen Glut sein Kopf platzte, gleichzeitig ihm durch die Höhlen seiner hervorgequollenen Augäpfel das Blut heraus sprudelte.

Sterbend sprach der verschmorte Kaiser zu Nostros, seinem getreuen Vasallen, der wimmernd verbrannt neben ihm lag: ?Wir hätten die Bestie niemals reizen dürfen." - ?Nein, niemals." entgegnete Nostro.

Und damit fanden die beiden ihren kurzen, quälenden Tod.